Auf ukrainischen Social-Media-Kanälen wurde der Befehl belustigt aufgenommen: Zivilisten sollten die iranischen Kamikaze-Drohnen, die seit Tagen landesweit über Städten landen, nicht allein vom Himmel abschießen. Die Tatsache, dass die Menschen von dieser neuen Form der Eskalation – dem gezielten Angriff auf kritische Energieinfrastruktur – nicht abgeschreckt werden, sollte Hoffnung machen. Es zeigt aber auch, wie verwundbar das Land noch ist. Allein am Dienstag verzeichnete der ukrainische Generalstab 87 russische Raketen- und Luftangriffe in zehn Regionen und Großstädten wie Charkiw, Odessa, Mykolajiw und Kiew. Auch 43 Kamikaze-Drohnen kamen zum Einsatz, von denen 38 abgeschossen wurden. Wo die Luftabwehr versagt, haben Raketen eine verheerende Wirkung. Seit Beginn der Angriffe vor mehr als einer Woche wurden mehr als 70 Menschen getötet und mehr als 240 verletzt. 380 Gebäude, darunter etwa 240 Wohngebäude, wurden beschädigt. Mehrere elektrische und thermische Kraftwerke in den Regionen Kiew, Saporischschja und der Westukraine mussten abgeschaltet werden. Nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj ist mittlerweile jedes dritte Kraftwerk zerstört. „Das bedeutet, dass in der Ukraine über 1.000 Städte und Dörfer von Stromausfällen betroffen sind. Das ist natürlich ein Problem“, erklärt Miranda Schreurs, Professorin für Umwelt- und Klimapolitik, im Gespräch mit ntv.de. Auch das Gesundheitswesen ist betroffen. In vielen Krankenhäusern und Pflegeheimen laufen bereits Generatoren, „weil so viel Infrastruktur ausgefallen ist“. Auch in Kiew brach nach einem der jüngsten Anschläge die Wasserversorgung zusammen. Bürgermeister Vitali Klitschko rief alle Einwohner dazu auf, Strom zu sparen und Trinkwasservorräte anzulegen. Auch Präsident Zelenskyj forderte seine Mitbürger auf, sparsam zu sein, damit die Energieversorgung für alle stabil bleibt. Die Ukraine, die vor dem Krieg in großem Umfang Strom ins Ausland exportierte, befürchtet den Zusammenbruch ihrer kritischen Infrastruktur – und das kurz vor Beginn des Winters, der mit Temperaturen von bis zu minus 15 Grad klirrende Kälte über viele Gebiete bringen könnte, darunter auch über Kiew Celsius.

Zivilisten leiden enorm

Für András Rácz, Senior Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, ist das eine zielgerichtete Strategie im Krieg. „Russland bereitet seit langem großangelegte Angriffe auf die Energieinfrastruktur vor. Russland hatte die jüngste Gewaltwelle als Vergeltung für die teilweise Zerstörung des Prestigegebäudes auf der Krim bezeichnet. Tatsächlich wendet der russische Präsident Wladimir Putin aufgrund der massiven militärischen Verluste an der Front nun eine neue (bekannte) Strategie an: Terror gegen die Zivilbevölkerung, um den Feind zu demoralisieren. Das könnte fatale Folgen für Millionen Menschen in der Ukraine haben. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt bereits vor einer humanitären Katastrophe. Mehr als 800.000 Häuser wurden zerstört, und viele Ukrainer leben in Notunterkünften oder beschädigten Gebäuden – ohne Zugang zu Strom oder Treibstoff zum Beispiel zum Betrieb von Generatoren. „Wenn die Menschen im Winter keine Möglichkeit haben, ihre Häuser zu heizen, könnte dies den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten“, sagte die WHO in einer Erklärung. Vor allem ältere Menschen, die nicht mehr vor dem Krieg fliehen konnten oder wollten, könnten ohne ausreichende Versorgung in den kalten Monaten an saisonalen Krankheiten, Unterkühlung, Schlaganfall oder Herzinfarkt sterben. Zudem besteht die Gefahr einer neuen Flüchtlingsbewegung innerhalb des Landes. Zwei bis drei Millionen Menschen könnten “aufgrund der Winterherausforderungen und der jüngsten Eskalation der Kämpfe” intern vertrieben werden, sagte die Organisation.

Iranische Drohnen „effektives Werkzeug“

Um maximales Leid zu verursachen, muss sich Putin nicht einmal viel Mühe geben. Es kommt ihm entgegen, dass viele Städte und Gemeinden in der Ukraine ein zentrales Fernwärmesystem nutzen, um Häuser zu heizen und Warmwasser bereitzustellen. Thermische Kraftwerke versorgen oft eine ganze Region. Fällt ein Kraftwerk über einen längeren Zeitraum aus, kann die Situation besonders im Winter schnell lebensbedrohlich werden. Dafür reicht im Zweifelsfall eine einzelne Kamikaze-Drohne. „Nicht jede Drohne schafft es bis ins Ziel“, sagt Sicherheitsexperte Markus Kaim im Gespräch mit ntv. “Aber es hat sich als vergleichsweise wirksame Waffe erwiesen.” Für Putin haben Drohnen auch den Vorteil, russische Munitionsengpässe auszugleichen. Dass Russland nun auch die Ukraine mit “notorisch ungenauen” S-300-Raketen bombardiert, beweist András Rácz, “dass die präzisionsgelenkten Raketen zur Neige gehen”. Zu hoffen, dass die Vorräte irgendwann zur Neige gehen, hält er jedoch für einen Fehler. „Die Bestände sind noch nicht ganz erschöpft“, sagt Rácz. Moskau ist in der Lage und willens, alle S-300-Raketen gegen die Ukraine einzusetzen. Zudem hatte das Teheraner Regime offenbar bereits am 6. Oktober versprochen, weitere Drohnen und Boden-Boden-Raketen nach Russland zu liefern. Angesichts dessen ist Kiew mehr denn je auf die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Erste Hilfszusagen wurden bereits gemacht. Japans Botschafter in der Ukraine, Matsuda Kuninori, kündigte an, Japan werde den Wiederaufbau der beschädigten Kraftwerke unterstützen. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, das Bündnis werde “in den kommenden Tagen” Drohnenabwehrsysteme an die Ukraine liefern. Auch die EU plant Sanktionen gegen Personen im Iran. Nach Angaben des US-Außenministeriums wollen die Vereinigten Staaten durch “praktische, aggressive” Schritte den Verkauf weiterer Drohnen zumindest erschweren. Ob das alles ausreicht, um Städte und Gemeinden vor unsicheren Lebensbedingungen im Winter zu schützen, ist allerdings fraglich. “Die ukrainische Luftverteidigung hat erhebliche Schwächen”, sagt Kaim. „Er konnte viele dieser Drohnen abschießen, aber eine vollständige Abdeckung war nicht möglich.“ Versuche von Polizisten, Soldaten und Zivilisten, die Drohnen mit Handfeuerwaffen vom Himmel zu schießen, zeigen den Mut und die völlige Verzweiflung der Ukrainer angesichts der anhaltenden Bedrohung. Schließlich kommen die Geschosse manchmal wieder runter und können Schaden anrichten.