Sieg in letzter Sekunde: Union Berlin traf in der 97. Minute zum 2:1 gegen Gladbach. Sebastian Rieder aus Berlin Wie ist das Wunder der Berliner Union zu erklären? Vielleicht mit einer Analogie zu Asterix und Obelix? Wir schreiben das Jahr 2022. Die gesamte Bundesliga wird von den Bayern besiegt. Die ganze Bundesliga? Nein! Ein Stadtteil namens Köpenik, bewohnt von unbeugsamen Berlinern, hat in dieser Saison ein 1:1-Unentschieden gegen den deutschen Rekordmeister errungen und hört nicht auf, sich der Krösus-Meisterschaft zu widersetzen. Und das Leben ist nicht einfach für die Legionäre aus München. Union Berlin führt die Tabelle nach zwölf Spielen – gejagt von den Bayern – immer noch mit einem Punkt Vorsprung an. “Er kennt keine Turbulenzen”: Journalisten analysieren Fischers Erfolgsgeschichte (04:38) Die Geschichte französischer Fußballer führt Bundesliga-Fans vor die große Frage: Was steckt im Zaubertrank der Union? Wie ist dieser Wahnsinn möglich? Der Blick will von Urs Fischer persönlich lernen und folgt in Berlin nach dem 2:1-Sieg gegen Borussia Mönchengladbach. Doch der Coach freut sich über die Stimme aus der Schweiz. „Jetzt konnten wir wirklich Dialekt sprechen“, scherzt der 56-jährige Zürcher im Dialekt – und bringt damit die versammelte deutsche Presse zum Schmunzeln. Nach dem Scherz greift Fischer auf Hochdeutsch zurück und wird ernst: „Ich kann das nicht erklären.“ Er zuckt mit den Schultern und fügt dann mit einem verschmitzten Grinsen hinzu: „Diese Mannschaft pusht sich in jedem Spiel. Besonders hier in unserem großen Stadion mit diesen fantastischen Fans, die uns unermüdlich anfeuern.”
Bügeln bis zur letzten Sekunde
Bestes Beispiel ist der Heimsieg gegen Gladbach am vergangenen Sonntag. Am Ende des Spiels steht es 1:1. Sechs Minuten Ausfallzeit werden angezeigt. Bei einem Unentschieden würden die Berliner hinter den Bayern hängen bleiben. Fischer führt sein Team nach vorne. Und auch das Publikum in der Alten Försterei peitscht das Team mit ohrenbetäubendem Applaus ein. „Iron Union – Iron Union – Iron Union“ – das riefen die 22.000 Fans auf den Tribünen. Der legendäre Schlachtruf – vor dem Zweiten Weltkrieg von Fußball spielenden Schlosserjungen aus der Arbeiterklasse entfacht – löste die nächste Angriffswelle aus. Die Fohlen sind völlig am Boden zerstört – und mittendrin: Nico Elvedi, der die Fohlen in der ersten Halbzeit mit seinem zweiten Saisontor in Führung brachte. Beim Ausgleich nach der Pause machte er dann aber keine gute Figur. Kurz vor dem Schlusspfiff hat der Nati-Verteidiger noch einmal die Füße voll. Die Nachspielzeit ist bereits abgelaufen, als der Schiedsrichter Eckball für die smarten Berliner vergibt – und eine Adrenalin-Überdosis durch die ausverkaufte Arena jagt. Ein Kopfballtor bringt Köpenick endgültig zum Kochen. „Wir wollten um jeden Preis gewinnen“, sagt Torschütze Danilho Doekhi, „und dass ich dann die Entscheidung bringe, ist einfach unglaublich.“
„Brutaler Wille“ als Erfolgsrezept
Es ist die reiche Belohnung für Risiko und Souveränität, die die Union von Anfang an gesucht hat. Und es ist der Moment der großen Erlösung, wenn Fishers Rollkragenpullover vor Freude fast platzt. „Vielleicht war ein bisschen Glück dabei, aber wir haben es uns verdient“, sagt er später und lobt den fliegenden Holländer für seinen starken Drive. “Das Timing war perfekt.” Der Mann des Spiels seinerseits bedankt sich bei ihm für das Vertrauen, dass er als Verteidiger so spät kommt. “Fisher ist ein sehr guter Trainer. Wir haben eine klare Organisation. Jeder hier weiß, was zu tun ist.” Und das bedeutet – neben taktischer Orientierung – kämpfen bis zum Umfallen. Dem Underdog Union bleibt laut Fischer keine Wahl. “Für uns ist es eine Voraussetzung für den Erfolg, dass das Team die Extreme erreicht.” Was sich nach vier Jahren unter Fischer herauskristallisiert, nennt Kapitän Rani Khedira eine „brutale Willenskraft“, die er als Herz dieser Mannschaft verkörpert habe. „Fisher bringt uns wirklich jeden Tag ans Limit. Er prüft jedes Detail und geht im Training auf jede Situation ein. Er gibt niemals auf. Manchmal ist es nervig, aber wir lassen es auch zu, weil wir wissen, dass es uns alle besser macht.”
Hohes Ansehen bei den Fans
Dass Fisher Spieler ständig mit ihren Mängeln aufzieht, ist rein nach dem Geschmack der Fans. Schönwetterspieler sind hier fehl am Platz. „Fisher braucht keine Stars, er braucht arbeitende Spieler“, war der Tenor von der Tribüne. „Er hat seine Spieler im Griff und sie geben immer mehr als 100 Prozent“, sagt ein kleiner Junge. “Er kennt Fußball und hat Talent für Spieler.” Für viele ist Fisher seit seiner Beförderung ein „Held“. Die Bewunderung in Berlin reicht sogar bis zum Tierpark. Dort wurde ein Igel wegen seines haarigen Wesens und seiner stacheligen Haare auf den Namen Urs getauft. „Fisher ist ein cooles Schwein – ein sozialer Mensch“, sagen Bierliebhaber an der Durstlöscher-Bar vor dem Stadion. „Seine Mentalität passt hervorragend hierher. Immer fokussiert auf das nächste Spiel. Einfach verrückt.“ Seine „Bodenhaftigkeit und Gelassenheit“ machen selbst den besten Schöpfer aus der Schweiz zum „besten Trainer der Bundesliga“. █ █ █ █ Verein SP TD Pt 1 0 0 0 2 0 0 0 3 0 0 0 4 0 0 0 5 0 0 0 6 0 0 0 7 0 0 0 8 0 0 0 9 0 0 0 10 0 0 0 11 0 0 0 12 0 0 0 13 0 0 0 14 0 0 0 fünfzehn 0 0 0 16 0 0 0 17 0 0 0 18 0 0 0