Der Berner Rechtsanwalt Dominic Nellen (38) vertritt die Opfer des Menschenhandelsskandals aus dem Berner Jura. Nicolas Lurati, Luisa Ita, Michael Sahli Mitten in der Schweiz wurden Frauen 16 Jahre lang als Sklavinnen gehalten – ohne dass es jemand merkte. Nächste Woche wird ein kosovarischer Vater mit vier Söhnen vor dem Regionalgericht Moutier BE erscheinen. Der Vorwurf: Er soll für jeden seiner vier Söhne ein Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren als «Ehefrau» vom Balkan in den Berner Jura geholt haben. Hier misshandelten Vater und Söhne anderthalb Jahrzehnte lang die Frauen und zwangen sie zur Hausarbeit. Das erste Opfer wurde 2003 aus Albanien in die Schweiz gebracht. Die damals 17-Jährige kannte ihren Mann nur von Fotos, die Zwangsheirat zwischen den Schwiegereltern wurde arrangiert. Den Eltern des Mädchens wurde ein besseres Leben ihrer Tochter in der Schweiz versprochen. Ein anderes Mädchen war erst 14 Jahre alt, lebte in Armut und wurde laut Ermittlern von ihren Eltern für 300 Euro an ihre Peiniger verkauft.

Frauen wurden isoliert und mit dem Tod bedroht

Das vermeintlich bessere Leben entpuppte sich schnell als Falle. Laut Anklage hat Patriarch Albrim F.* (65) seine Söhne genau angewiesen, wie sie ihre “Frauen” behandeln sollen: mit brutaler körperlicher und psychischer Gewalt. Die Frauen wurden wiederholt von Familienmitgliedern geschlagen, gedemütigt, mit dem Tode bedroht, isoliert und vergewaltigt. “Er hat sie mehr als 20 Mal mit seinem Gürtel geschlagen”, heißt es in der Anklageschrift eines der Angeklagten. Oder: “Obwohl er schwanger war, schlug er seine Braut, bis sie blutete und würgte ihren Hals mit beiden Händen.” Eines der Opfer musste ihrem Schwiegervater und einem Schwager jede Nacht die Füße waschen. Beschwerden füllen 30 Seiten. Die Frauen durften die Wohnung selten alleine verlassen und hatten fast keinen Kontakt zu ihren Familien daheim. Und sie musste von morgens bis abends Hausarbeit machen. Nach 16 Jahren in der Schweiz konnte eine der Frauen keine Landessprache sprechen, sie war illegal hier.

Die Opfer sind endlich an einem sicheren Ort

Rechtsanwalt Dominic Nellen (38) vertritt zwei der Frauen vor Gericht und begleitet sie seit drei Jahren. „Frauen werden von der Justiz gut geschützt. Sie sind an einem sicheren Ort», sagt er gegenüber Blick. Zu den etwa zehn Kindern, die der Stamm geboren hat, kann der Anwalt nichts sagen – um sie zu beschützen. Seine Klienten sind schwer verletzt: „Sie kamen als Minderjährige, manchmal über die grüne Grenze. Sie mussten die ganze Nacht durch den Wald laufen. Und dann wurden sie gleich nach ihrer Ankunft von ihren Ehemännern vergewaltigt. Das hat diese Frauen kaputt gemacht.” Für Nellen ist klar: Hinter dem menschenverachtenden Verhalten steckt das mittelalterliche albanische Gewohnheitsrecht Kanun. Bei Clanchef Albrim F. liefen alle Fäden zusammen: „Es ist ein großer Familienclan mit einem patriarchalischen Herrscher, dem Schwiegervater. Er war in der Mitte und gab die Befehle.” Irgendwann wurden die Berner Behörden auf die Familie aufmerksam. „Der Sozialdienst begann, Auflagen zu machen. Zum Beispiel, dass Frauen Sprachkurse besuchen und Arbeit suchen sollen.” Es sei der erste Schritt in die Freiheit gewesen: „Sie haben erkannt, dass ein solcher Missbrauch nicht normal ist.“ Und: “Bevor die Behörden Auflagen gemacht haben, lebten alle unter einem Dach.”

Die Angeklagten bestreiten jede Schuld

2019 gelang den Frauen schliesslich die Flucht – 16 Jahre nachdem das erste Opfer in die Schweiz gebracht wurde. Laut Anklage ist auch eine Opferschutzbehörde beteiligt. Die Anklageschrift zeigt auch, dass keiner der Angeklagten mehr als einen Tag hinter Gittern verbracht hat. „Die Männer bestreiten, etwas Illegales begangen zu haben. Die Frauen haben allem zugestimmt“, sagt der Anwalt des Opfers. Den Angeklagten drohen unter anderem Strafen für Menschenhandel, Zwangsheirat, Körperverletzung, Nötigung, Vergewaltigung und sexuelle Handlungen an Kindern. Die erforderliche Strafe wird erst in der Anhörung verkündet. Ein Anwalt eines der Söhne sagt gegenüber Blick, er wolle einen Freispruch verlangen. Für den Blick waren die anderen Angeklagten und ihre Verteidiger für eine Stellungnahme nicht zu erreichen oder wollten nichts sagen. Es gilt die Unschuldsvermutung. *Name geändert