Das Familienoberhaupt Albrim F. (65) sitzt mit seinen vier Söhnen auf der Anklagebank. Die Gruppe soll die Frauen als Haussklavinnen gehalten haben. Eine der vier damals 14-jährigen Frauen aus dem Balkan wurde für 300 Euro an ihren zukünftigen Ehemann und mutmasslichen Folterer im Berner Jura verkauft: 30 Seiten umfasst die Anklageschrift für den Prozess, der am Montag in Moutier BE beginnt von Gräueltaten. Und nun kommt heraus: Mindestens einer der Betroffenen muss auch hier in der Schweiz um sein Leben fürchten, von Abschiebung bedroht. Patriarch Albrim F.* (65) soll seit 2003 Frauen im Alter zwischen 14 und 17 Jahren für seine vier Söhne in die Schweiz geholt haben – teilweise illegal. Als Familienoberhaupt, so die Anklage, habe er seinen Söhnen genau vorgeschrieben, wie sie mit ihren Frauen umgehen sollten: mit Gewalt. Demnach wurden die Opfer wiederholt von Familienmitgliedern geschlagen, gedemütigt, mit dem Tode bedroht, isoliert und vergewaltigt.
Männer fungierten als Kuratoren und Übersetzer
Die Frauen durften die Wohnung selten alleine verlassen und hatten fast keinen Kontakt zu ihren Familien daheim. Unter diesen isolierten Bedingungen hätten Frauen nicht die Möglichkeit gehabt, die Landessprache zu lernen. Zu Behördenterminen seien die Frauen immer von mindestens einem Mann begleitet worden, erklärt Dominic Nellen (38), der zwei der Frauen vor Gericht vertritt: „Die Männer sprechen die Landessprachen perfekt und stehen den Frauen immer als Übersetzer zur Seite oder Vorgesetzte Die Termine sind weg.” Den Behörden macht er jedoch keinen Vorwurf, dass die Beschwerden nicht früher aufgefallen seien: “Für einen Außenstehenden war es fast unmöglich, das zu bemerken.”
Die Abschiebung wurde nur mit großem juristischen Aufwand hinausgezögert
Die Angeklagten hätten bei der Einreise ihrer Ehefrauen den ganzen Papierkram erledigt – aber nicht richtig. “Frauen leben nach dem Ausländergesetz noch immer in einer prekären Situation”, sagt Nellen. Sie wurden nie richtig erfasst, die Männer beantragten keinen B-Ausweis, reichten Unterlagen verspätet oder gar nicht ein. Mindestens einer der Frauen drohe nun die Abschiebung, so Nellen weiter: „Wir konnten die Zwangsräumung meiner Mandantin nur mit viel juristischem Aufwand hinauszögern, da das Gerichtsverfahren noch läuft.“ Nach einer letzten Krise wird das Thema wieder akut.
Die Rückkehr in Ihr Heimatland ist gefährlich
Da das mutmaßliche Vergewaltigungsopfer der häuslichen Familie den Rücken gekehrt hat und dies in dieser Kultur als Verrat gilt, ist schwer vorstellbar, welche Gefahren eine Heimkehr für sie mit sich bringen würde. „Aus kulturellen Gründen kann sie nicht zurück zu ihrer eigenen Familie und dort Schutz suchen, weil sie dort als schlechte Ehefrau gilt.“ Ob er trotz dieser “echten Gefahr” abgeschoben werden könne, könne das zuständige Staatssekretariat für Migration (SEM) aus Datenschutzgründen nicht sagen, so Dominic Nellen. In einer schriftlichen Stellungnahme auf Anfrage von Blick heisst es jedoch: «Wer zu Hause von Verfolgung bedroht ist, kann in der Schweiz Asyl beantragen.» Das SEM klärte anschliessend ab, ob dem Gesuch stattgegeben werden könne. Bei Menschenhandel beispielsweise wird sehr genau geprüft, ob die im Rückkehrland vorhandenen Mittel zum Schutz der Opfer ausreichen.
Ein Existenzminimum
Was die drohende Abschiebung zur Folge hat: Die betroffene Frau, die laut Anklage jahrelang als Sklavin festgehalten wurde, darf nicht arbeiten und erhält keine Sozialhilfe mehr. Nach Angaben ihres Anwalts lebt sie derzeit von Nothilfe: „Aber sie lebt, wie die anderen drei Betroffenen auch.“ Der Traum von einem besseren Leben in der Schweiz mit guten Bildungschancen ist für die vier Frauen geplatzt. Für die fünf Angeklagten gilt die Unschuldsvermutung, die laut Nellen bis zu einem rechtskräftigen Urteil keine Schuld ihrerseits sehen. Die mehrtägige Anhörung zu Menschenhandel, Zwangsheirat, Körperverletzung, Nötigung, Vergewaltigung und sexuellen Handlungen an Kindern beginnt am Montag, ein Urteil wird für den 24. November 2022 erwartet. *Name geändert