Mehr als 90 Prozent aller Menschen infizieren sich im Laufe ihres Lebens mit dem Epstein-Barr-Virus. Obwohl die meisten Infektionen harmlos sind, kann das Virus auch Multiple Sklerose verursachen. Nächstes Jahr soll erstmals ein Impfstoff getestet werden.
Im Vergleich zu einem Virus wie Ebola, das in 90 Prozent aller Fälle tödlich verläuft, erscheine das Epstein-Barr-Virus (EBV) auf den ersten Blick als harmloser Erreger, sagt Professor Wolfgang Hammerschmidt vom Helmholtz-Zentrum in München. Das Epstein-Barr-Virus ist ein sehr, sehr häufiges, weit verbreitetes Herpesvirus. Diese Herpesviren haben vor allem deshalb ungewöhnliche Eigenschaften, weil sie sich vermutlich über Jahrmillionen an Menschenaffen und dann an Menschen anpassen konnten. Das bedeutet, dass die evolutionäre Idee hier der Erfolg ist, so viele Menschen wie möglich zu infizieren.
Im Gegensatz zu akuten infektiösen Viren, die nach einer Infektion aus dem Körper verschwinden, verbleibt EBV im Körper. Es nistet sich sozusagen heimlich lebenslang in menschlichen Zellen ein – in den meisten Fällen ohne sie krank zu machen. Dies gilt jedoch nur, wenn der erste Kontakt mit dem Virus im Säuglings- oder Kleinkindalter erfolgt.
Ein verzögerter Erstkontakt kann schwerwiegende Folgen haben
Ein späterer Erstkontakt, etwa im Jugendalter, ist weniger harmlos. Drüsenfieber heißt die Krankheit, die Betroffene wochenlang mit Fieber bettlägerig macht und in 13 Prozent der Fälle zu einem monatelangen schweren Auszehrungssyndrom führt. Ziel sei es daher, Erkrankungen in dieser Altersgruppe vorzubeugen, so Wolfgang Hammerschmidt.
Gemeinsam mit anderen Forschern hat der Professor einen Impfstoff gegen das Virus entwickelt, um Drüsenfieber zu verhindern, das wissenschaftlich als infektiöse Mononukleose bezeichnet wird. Der Impfstoff, der bereits von einem Pharmaunternehmen hergestellt wird, soll nächstes Jahr in klinische Studien gehen, das heißt, er wird an Menschen getestet.
Der Impfstoff enthält keine tatsächlichen Teile des Virus, sondern künstlich hergestellte virusähnliche Partikel. Da es sich um ein neues Verfahren handelt, räumt Wolfgang Hammerschmidt ein, dass trotz der vielversprechenden Daten aus dem Labor die Gefahr besteht, dass der Impfstoff nicht so wirkt wie erwartet. Aber: Andererseits haben wir hier den großen Vorteil, dass wir einen sehr komplexen Impfstoff herstellen können, der 70 Prozent aller Proteine dieses Virus enthält. Damit gehen wir einen völlig neuen, bisher eigentlich nie genutzten Ansatz zur Herstellung von Impfstoffen in dieser Form.
EBV kann bei MS eine entscheidende Rolle spielen
Auch Professor Nicholas Schwab vom Universitätsklinikum Münster hält eine Impfung gegen das Epstein-Barr-Virus für sehr wünschenswert. Mit seiner jüngsten Forschung konnte er bestätigen, was andere Wissenschaftler vermutet hatten: dass EBV möglicherweise eine entscheidende Rolle bei der Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose, kurz MS, spielt. Diesen Zusammenhang entdeckten die Münsteraner Forscher über einen Umweg: Sie schauten sich an, wie gut die T-Zellen des Immunsystems gegen das Virus gewappnet sind: Und dann entdeckten wir, dass MS-Patienten nicht nur eine normale Menge verschiedener T-Zellen gegen das Epstein-Barr-Virus hatten, sondern mehr. Es hat also eine ungewöhnlich hohe Anzahl an unterschiedlichen Rezeptoren. Und das passiert nur bei Epstein-Barr und nicht bei anderen Viren, die wir uns angesehen haben. Und daraus schlossen wir, dass die Immunantwort bei MS-Patienten gegen das Epstein-Barr-Virus breiter ist, als sie eigentlich sein sollte.
Breitere Basis bedeutet: Das Immunsystem hat stärker reagiert, als es nötig wäre, um das Virus unter Kontrolle zu bringen. Nach dieser Abwehrphase verbleiben jedoch überaktivierte Abwehrzellen im Körper und stören Prozesse wie die Nervenübertragung, was dann zu Multipler Sklerose führen kann. Eine Erkrankung mit Drüsenfieber erhöht das Risiko für überaktivierte Zellen des Immunsystems, weil das Immunsystem in diesem späteren Stadium der menschlichen Entwicklung offenbar nicht mehr gut mit dem Virus umgeht. Wenn Sie früher eine EBV-Infektion bekommen und diese Infektion dann normaler ist, dann ist das besser für uns. Wenn es zu spät nachlässt, können Sie Mononukleose bekommen, was ein sehr großer Risikofaktor für die Entwicklung von MS ist.
Immer mehr Menschen erkranken in Deutschland an Multipler Sklerose, Tendenz steigend. Genauso wie Fälle von Drüsenfieber. Forscher erklären dieses Phänomen damit, dass der Erstkontakt mit dem Epstein-Barr-Virus aufgrund guter Hygiene und medizinischer Versorgung immer wieder verschoben wird. Und deshalb ist EBV für Forscher längst kein harmloses Loch mehr.