Auf dem Bauernhof bei Kirchdorf im Berner Mittelland, könnte man meinen, läuft alles wie gewohnt. Hühner gackern, die Herbstsonne taucht die Bäume in goldenes Licht. Saftige Äpfel warten darauf geerntet zu werden. Der Blick reicht weit über die Ebene des Gürbetals, hinter der sich die Alpen wie eine graue Wand in den Himmel erheben. Dort! Im Stroh bewegt sich etwas. Ein Fernglas schiebt sich hinter das Fenster. Auch die vermeintlichen Büsche neben dem Stall bewegen sich – ein Tarnnetz, darunter versteckte Fahrzeuge. Aus dem Nichts taucht ein grünes Gesicht auf. Die Romantik ist illusorisch: Dieser Hof ist eine geheime Militärbasis.
Augen der Armee
Der junge Mann kommt unter dem Tarnnetz hervor. „Wir sind hier, um zu sehen, ohne gesehen zu werden“, sagt Oberleutnant Simon Münger (20). Schwarzes Barett, Sturmgewehr, Zugführer. Zur Weltraumüberwachung infiltriert seine Aufklärungsarmee feindliches Territorium, versteckt sich an zivilen Orten und versorgt das Militär mit Informationen. Mit 20 Jahren hat Lokführer Simon Münger bereits 30 Untergebene. Münger stößt die Holztür zum Stroh auf. Die Augen brauchen einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Andreas Hirschi (21) sitzt versteinert zwischen Heuballen und schaut durchs Fernglas. 24 Stunden am Tag beobachtet die Armee den Teil der Westschweiz. Jede Schicht dauert eine Stunde. Der Späher im Gras: 24 Stunden am Tag überwachen Andreas Hirschi und seine Truppe den vorgesehenen Sektor im Westen. «Wir überwachen Truppenbewegungen oder Waffenlieferungen des Feindes», sagt Hirschi. Der Baumaschinentechniker ist einer von 8.159 Rekruten, die diesen Juli in die Rekrutenschule gestartet sind. Sein Feind trägt den gleichen Tarnanzug wie Hirsi heute. Andreas (21), Beobachter: „Bei jedem Wetter sehen wir alles“ (00:34) 105 Rekruten nehmen an der Übung teil. Jeden Tag sehen sie auf ihren Smartphones Bilder davon, was die Schrecken des Krieges in der Ukraine anrichten. Gleichzeitig werden sie für den Ernstfall geschult. Heute besuchen wir die Ausdauerübung der Rekrutenschule, um zu erfahren, wie sich der Krieg auf den Armeealltag auswirkt.
Sicherheitsfrage erwacht aus Tiefschlaf
33 Jahre ist es her, seit die Hauptbedrohung der Berliner Mauer gefallen ist. Die Angst vor der Sowjetunion hatte die Armee der neutralen Schweiz auf eine massive Armee von rund 600.000 Mitgliedern anschwellen lassen. Zum Vergleich: 2021 waren es noch knapp 148.000 Soldaten. Nur drei Wochen nach dem Mauerfall stimmte die Schweiz für die Abschaffung der Armee: 35,6 Prozent wollten in einem Land ohne Armee leben. Andreas Hirschi ist einer von 8159 Rekruten, die im Juli in die Rekrutenschule gestartet sind. Das Image der Armee verschlechterte sich rapide. Inflationsbereinigt sank das Budget von fast 6,5 Milliarden (1990) auf 3,9 Milliarden (2006), und die Rekrutenschule galt in vielen Kreisen als langweilige Zeitverschwendung. Immer weniger wurden eingezogen, auch weil Kriegsdienstverweigerer ab 1996 nicht mehr zwangsläufig verhaftet wurden. Stattdessen wurde ein Sozialdienst geschaffen. 1996 gab es noch 1.148 „Zives“, 2010 leisteten rund 23.700 Menschen Zivildienst. Scouts sind Teil der Artillerie der Schweizer Armee. Ihr Ausdauertraining findet auf diesem Hof statt. Mit dem Krieg in der Ukraine ist die Bedrohung aus dem Osten wieder in den Köpfen der Menschen, wie die Monitoring-Umfrage «Sicherheit 2022» des Bundes zeigt: 74 Prozent der Schweiz wollen eine voll ausgestattete Armee – mehr denn je. Nur 30 Prozent sind der Meinung, dass die Bundesregierung zu viel für das Militär ausgibt – ein Rückgang um zwölf Prozent, der niedrigste jemals gemessene Wert. Das Thema Sicherheit ist aus seinem Dornröschenschlaf erwacht. Das Militärbudget ist in den vergangenen Jahren noch einmal gestiegen: 5,14 Milliarden wurden für 2022 veranschlagt, bis 2030 sollen es sogar sieben Milliarden sein.
Militärtheorie am Beispiel der Ukraine
Draußen blinzeln grüne Gesichter in die Sonne. Ein Flugzeug dröhnt über den Hof. Sofort beginnt die Spekulation: „Eine F/A-18? Sicher für die Flugvorführung Axalp», sagt Münger. Der Lokführer blickt auf die Berge. Wie fühlt es sich an, hier zu trainieren, wenn nur zweieinhalb Flugstunden östlich die Lage sehr ernst ist? Gegen einen Feind, der droht, den gesamten Westen auszulöschen? „Bei so einer Übung denke ich oft darüber nach, ob ich im Notfall bestimmte Dinge genauso machen würde.“ Die Ukraine hat gezeigt, dass ein großangelegter Krieg in Europa wahrscheinlicher ist als bisher angenommen. Aber Münger war von Anfang an klar, dass ein Notfall passieren könnte. “Sonst wäre ich nicht hier.” Sehen, ohne gesehen zu werden: Die Aufklärungstruppe dringt in feindliches Gebiet ein, versteckt sich an zivilen Orten und erstattet dem Militär Bericht. Einerseits ist er tief beeindruckt davon, wie ukrainische Zivilisten ihr Land verteidigen. Andererseits hat es ihm wieder einmal gezeigt, wie wichtig eine funktionierende Armee ist. Es geht nicht nur um die Verteidigung nationaler Grenzen. Aber auch um die Menschen dahinter zu verteidigen. Mehrere Zivilisten haben dem Zugführer Simon Münger für seinen Dienst seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine gedankt. Der Krieg habe Teile des Militärs verändert, sagt Münger. “An der Offiziersschule wurden in letzter Zeit viele Theorien anhand moderner Beispiele aus der Ukraine bewiesen.” Er ist persönlich besorgt über die unzähligen Kriegsverbrechen, die in der Ukraine begangen werden: Phosphorbomben, Vergewaltigungen, Zivilisten und Kinder, die als menschliche Schutzschilde missbraucht werden.
Was Krisen mit Rekruten machen
Wie sich der Krieg in der Ukraine auf die Schweizer Armee auswirkt, ist eine wichtige Frage, sagt Nadine Eggimann (40). Seit 2009 forscht er zu den Werten der Militärangehörigen und der Führungskultur in der Schweizer Armee und ist gleichzeitig Dozent für Militärpsychologie und Militärpädagogik an der Militärakademie ETH Zürich (MILAK). „Dafür gibt es noch keine Belege – aber wir gehen davon aus, dass sich der Konflikt in der Ukraine besonders in der Dienstmotivation von Neueinstellungen niederschlägt.“ Nadine Eggimann forscht an der Militärakademie der ETH Zürich. Er sagt: “Krise erschüttert unser Selbstvertrauen.” Krisen erschüttern früher selbstverständliche Werte, sagt Eggimann. „Wir merken, wenn ich meinen Wert jetzt nicht verteidige, besteht die Gefahr, dass ich das gewohnte Sicherheitsgefühl verliere und diesen Wert nicht halten kann. Das kann Angst machen.” Angst als Motivation. Ein angeborener Reflex, der uns zum Überleben ermutigt. Zähneputzen mit Aussicht: Regelmäßig und technisch clever die Basis zu wählen, gehört zur Übung dazu. Generell kommt es auch vor, dass Rekruten motivierter sind, fast alle Aufgaben zu erledigen, wenn sie den Sinn dahinter sehen. „Wenn sie daran erinnert werden, dass Krieg tatsächlich existiert, kann das für ihre Arbeit sinnvoll sein“, sagt Eggiman. Fabiano Loppacher hat es geprägt, dass er täglich Fotos aus der Ukraine auf seinem Smartphone sieht. In den vergangenen acht Monaten leistete die Ukraine erbitterten Widerstand. “Rekruten sehen, was Werte wie Kameradschaft und Solidarität ausmachen können.” Werte, die auch in den Rekrutenschulen der Schweizer Armee gelehrt werden. Eggimann: „Wenn die Rekruten das erkennen, bekommt Zivildienst eine neue Bedeutung. Das gibt Motivation.” Fabiano (20) ist Radiomoderator: „Motiviert zu bleiben, ist die größte Herausforderung“ (01:07)
Völlig Fremde sagen Danke
Im Stall grunzen die Schweine, jetzt schlafen dort die Rekruten auf dem Boden. Ein Team besteht in der Regel aus acht Scouts. Eine kleine Gruppe, die ohne Unterstützung auskommen muss. Es ist immer jemand am Ausguck, jemand am Funk, jemand auf der Hut. Ständiger Einsatz, wenig Schlaf, unbekannter Zeitplan: Ausdauersport ist eine Extremsituation. „Man beobachtet, wie Menschen unter Stress reagieren“, sagt Münger. In der Ecke steht ein kleiner Holztisch. Fabiano Loppacher (20) beugt sich über das Handy und schreibt etwas auf einen Zettel. Von hier aus funkt er die Beobachtungen aus dem Stroh in die Kaserne in Tun. Das Team trotz wenig Schlaf und konstanter Arbeit motiviert zu halten, ist die größte Herausforderung. Loppacher sagt: “Es hat lange gedauert.” Fabiano Loppacher funkt direkt vom ehemaligen Schweinestall in die Thuner Kaserne. Lässt die Übung den geschulten Multi-Ingenieur an einen Notfall denken? “Klar, wir simulieren es hier.” Aber die Tatsache, dass er täglich Bilder und Nachrichten aus der Ukraine, Panzer auf den Straßen und zerstörte Gebäude sieht, lässt die Mission ernster erscheinen. Bereit, sein Leben aufs Spiel zu setzen, so oder so. “Darum bin ich hier.” Da die Nächte kurz sind, schlafen die Menschen tagsüber. Die Truppe merkt, dass das Militär seit Ausbruch des Krieges mehr Unterstützung von der Bevölkerung erhält. Lokführer Münger sagt: „In den letzten Monaten sind uns völlig fremde Menschen mit öffentlichen Verkehrsmitteln begegnet und haben sich für unsere Dienste bedankt.“ Das war ihm oder seinen Kollegen noch nie passiert. “Jetzt wächst es. Das ist Motivation.”
Die Ruhe vor dem Schmelztiegel
Während der Ausdauerwoche ist die Truppe im Dauereinsatz. Es ist immer jemand am Ausguck, jemand am Funk, jemand auf der Hut. Hirsi tritt vor …