Stand: 24.09.2022 23:38 Uhr                 

Mykhailo Podoliak ist Berater des ukrainischen Präsidenten Selenskyj. Im Interview mit tagesschau.de schildert er, was neben einem möglichen Anschluss hinter den Schein-Volksabstimmungen stecken könnte. Gleichzeitig wiederholte er die Anfrage nach Leopard-2-Panzern aus Deutschland. tagesschau.de: Herr Podoljak, was halten Sie von den Scheinreferenden, die seit Freitag in den von Russland besetzten Gebieten Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson abgehalten werden? Mykhailo Podoliak: Wir sehen kein Referendum. Was wir hier sehen, ist ein von einer Besatzungsarmee besetztes Gebiet, in dem aktive Kampfhandlungen fortgesetzt werden. Daher gibt es heute in den besetzten Gebieten keine rechtliche Aktion namens “Referendum”, sondern eine Propagandaaktion namens “Referendum”. Und weil wir kein Referendum sehen, erwarten wir auch keine Konsequenzen. tagesschau.de: Für Einheimische ist es schwierig, virtuellen Volksabstimmungen auszuweichen. In einigen Fällen werden Sie aufgefordert, vor der eigenen Haustür zu „rufen“. Podoliak: Die Leute kommen mit Waffen zu Ihnen nach Hause, richten diese Waffen auf Sie und sagen: “Bitte beantworten Sie die Frage: Wollen Sie zu Russland gehören oder nicht?” Und in diesem Moment sieht dich ein Mann mit einem Maschinengewehr an. Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich besser, erst gar nicht die Tür zu öffnen und sich an keiner Propagandakampagne zu beteiligen. Persönlich Mykhailo Podoliak, Jahrgang 1972, ist ein ukrainischer Politiker und einer der wichtigsten Berater des ukrainischen Präsidenten. Err war Teil der ukrainischen Delegation bei den Verhandlungen mit Russland nach der Razzia vom 24. Februar 2022.

“Russland will das Volk einziehen”

tagesschau.de: Wir wissen von Ukrainern in den besetzten Gebieten, die sich große Sorgen über die Folgen dieser Scheinreferenden machen. Es gibt zum Beispiel Männer, die befürchten, in die russische Armee eingezogen zu werden. Podoliak: Genau das will Russland erreichen. Sie halten dieses „Referendum“ nicht ab, um zu erklären, dass es russisches Territorium ist. Nein – sie tun es, um das zu haben, was sie als legitime Rechtfertigung für die Wehrpflicht aller Menschen ansehen, die aus verschiedenen Gründen in der Besetzung sind. Damit sie dann auf ukrainischem Boden für die Interessen der Russischen Föderation sterben. Deshalb sagen wir, dass jeder, der von der Russischen Föderation oder den besetzten Gebieten mobilisiert wird, sich freiwillig den Gefangenen der Ukraine unterwerfen kann.

“Wir müssen keine zusätzliche Mobilisierung ankündigen”

tagesschau.de: Wir erleben einen Zermürbungskrieg, in dem es auf beiden Seiten hohe Verluste gibt. Wenn also Russland jetzt mobil macht, sollte die Ukraine dann nicht auch weiter mobil machen? Podoliak: Anders als die Russische Föderation sind wir ein pragmatisches Land – und wir schauen auf die Kriegsmathematik. Wir wissen genau, wo viele Menschen sein sollten. Wir berücksichtigen Vorbereitung und Moral. Wir haben bereits Reserven durch das Territorialverteidigungssystem aufgebaut und werden diese Reserven aktiv nutzen. Es besteht keine Notwendigkeit, heute eine zusätzliche Mobilisierung anzukündigen. Wir haben alles und sind auf die größte Zahl russischer Militärangehöriger vorbereitet.

Was die Opfer betrifft, so glaube ich, dass viele die Art des Krieges, den wir heute in der Ukraine haben, nicht verstehen. Wir haben auf militärischer Seite nicht so viele Opfer wie die Russische Föderation. Denn im Gegensatz zu Russland kämpfen wir kreativer. Konfliktparteien als Quelle Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern von offiziellen Stellen der russischen und ukrainischen Konfliktparteien können nach derzeitiger Lage nicht direkt von einer unabhängigen Stelle überprüft werden.

“Mehr als 1200 Siedlungen wurden vollständig zerstört”

tagesschau.de: Ihr Präsident Wolodymyr Selenskyj hat in einer seiner jüngsten Videoansprachen von 55.000 gefallenen russischen Soldaten gesprochen. Auch von Tausenden gefallener ukrainischer Soldaten ist die Rede. Podoliak: Russland schickt wie im Zweiten Weltkrieg alle an die Front. Es ist Russland egal, wie viele seiner Leute dort sterben. Hauptsache sie kommen einen halben Kilometer voran.

Leider erleidet unsere Zivilbevölkerung die größten Verluste. Russland greift Städte mit Marschflugkörpern an. In den vergangenen zwei Wochen kam es im Stadtzentrum von Saporischschja zu verheerenden Anschlägen. Auch die zerstörerischen Angriffe im Zentrum von Charkiw hören nicht auf. Daher treffen russische Angriffe weniger die militärische als die zivile Infrastruktur, kritische Infrastruktur und die Zivilbevölkerung. Wir haben viele zivile Opfer. Russland setzt 90 Prozent seiner eigenen Militärmacht für Angriffe auf städtische Städte ein. Bis heute wurden mehr als 1200 Siedlungen vollständig zerstört und von der Karte entfernt. Das ist die Art von Krieg, die die Russische Föderation führt. tagesschau.de: Die Ukraine hat in ihrer Gegenoffensive seit Anfang September rund 6.000 Quadratkilometer zurückerobert, die zuvor monatelang von den Russen besetzt waren. Wird dieser Angriff fortgesetzt? Podoljak: Der Angriff geht weiter und geht auch heute noch in bestimmte Richtungen. Sie können bald mit Neuigkeiten von der Front rechnen. Auf die richtige Strategie kommt es an.

                Wer einen Termin im Büro des Präsidenten der Ukraine hat, muss im Vorfeld strenge Sicherheitskontrollen und Sandbagging durchlaufen.  Alles im Gebäude ist geschwärzt.  Podolyak empfängt das ARD-Team in seinem Büro, das seit Beginn der russischen Invasion auch sein Zuhause ist.  An seinem Schreibtischstuhl hängen Kleider und neben dem Schreibtisch stehen mehrere Paar Schuhe.  Bild: Robin Stevens

“Sowjetische Panzer sind nicht effektiv”

tagesschau.de: Aber auch eine Frage zu den Waffen, die Ihre Armee dafür braucht. Deutschland fordert zum Beispiel…