Villigen, 3. Oktober 2022 – Forschende des Paul Scherrer Instituts PSI haben in Zusammenarbeit mit der ETH Zürich ein Diagnoseverfahren für Tumore mit Radionukliden optimiert. Dank eines molekularen Tricks werden mögliche Nebenwirkungen nun deutlich reduziert. Über ihre Ergebnisse berichten die Forscher in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Bioorganic & Medicinal Chemistry.
Durch die Entwicklung einer neuen Klasse sogenannter Radiopharmaka konnten Forscher das bisherige Problem des Verbleibs von radioaktiven Stoffen in der Niere schon lange mindern. Ihr Ansatz basiert auf einem zusätzlichen Protein, das in den Nieren abgebaut werden kann. Durch diesen Zerfall wird die radioaktive Substanz vom Medikament gelöst und gelangt direkt in die Harnwege, über die sie ausgeschieden werden kann.
Radiopharmaka sind Medikamente, die durch Injektion verabreicht werden und zur Erkennung und Behandlung von Tumoren im Körper verwendet werden. Stoffe bestehen im Prinzip aus einem Radionuklid und einem Biomolekül. Das Biomolekül, beispielsweise ein Antikörper oder ein Peptid, bindet spezifisch an bestimmte Gewebeoberflächenstrukturen. Das Radionuklid sendet Strahlung aus, mit der ein Tumor entdeckt oder zerstört werden kann.
Der Anfang klingt einfach, aber es gibt viele Hürden zu überwinden, bevor das Medikament ausgeht. Abgesehen von der rein praktischen Schwierigkeit, ein Radionuklid an ein Biomolekül zu koppeln, muss zunächst das richtige Molekül gefunden werden. „Ist das Molekül zu spezifisch, besteht die Gefahr, dass nicht alle Tumore erkannt werden. Ist sie jedoch zu allgemein, kann sie möglicherweise mit gesundem Gewebe in Verbindung gebracht werden, was zu falsch positiven Diagnosen führt», erklärt Martin Béhé, Leiter der Gruppe Pharmakologie am Zentrum für Radiopharmazeutische Wissenschaften am PSI.
Targeting der extrazellulären Matrix
Neben Tumoroberflächen gibt es weitere mögliche Angriffspunkte für entsprechende Moleküle, beispielsweise die sogenannte extrazelluläre Matrix. Anstatt direkt auf den Tumor abzuzielen, zielte das Forschungsteam um Martin Béhé auf diese extrazelluläre Matrix. Es ist der Teil des Gewebes, der sich zwischen den Zellen befindet. Man kann sich diesen Raum als dreidimensionalen Rahmen vorstellen, in den die Zelle eingebettet ist. Allerdings ein äußerst komplexes und flexibles Gerüst, denn die extrazelluläre Matrix steht in ständigem Austausch mit der Zelle und reguliert beispielsweise deren Wachstum und das chemische Gleichgewicht innerhalb der Zelle. Die extrazelluläre Matrix spielt auch bei pathologischen Prozessen wie dem Wachstum von Krebszellen eine entscheidende Rolle. Viele Studien zeigen, dass bestimmte darin enthaltene Proteine die Lebensfähigkeit von Krebszellen fördern. Tatsächlich konnte gezeigt werden, dass das Tumorwachstum mit einem Umbau der extrazellulären Matrix einhergeht.
Forschende um Martin Béhé und Viola Vogel, Leiterin des Labors für angewandte Mechanobiologie an der ETH Zürich, wollen diese Transformation nutzen, um Radionuklide an Tumorgewebe zu liefern. Insbesondere arbeiten sie an einem sehr spezifischen Protein in der Gebärmutter, das als Fibronektin bekannt ist. In gesundem Gewebe hat Fibronektin eine ausgedehnte, gedehnte Struktur, die sich mit fortschreitender Krankheit zu entspannen beginnt. „Man kann es sich wie eine mechanische Feder vorstellen. Wird die Feder gedehnt, entstehen zwischen den einzelnen Windungen große Lücken, in denen sich das Medikament nicht binden kann. Entspannt sich hingegen die Feder, schließen sich die Lücken und die Bindungsaffinität steigt“, so die Analogie von Martin Béhé. Daher erfährt Fibronektin eine strukturelle Veränderung, während es seine chemische Zusammensetzung beibehält. Diese Änderung reicht jedoch aus, um die Bindungsaffinität für einige Peptide signifikant zu erhöhen.
In einer früheren Studie konnten Martin Béhé und sein Team zeigen, dass sogenannte Fibronektin-bindende Peptide (FnBP) als Träger eingesetzt werden können, um Radionuklide gezielt in die extrazelluläre Matrix eines Tumors zu transportieren. Dazu kombinierten die Forscher das Fibronektin-bindende Peptid FnBP5 mit dem radioaktiven Isotop Indium-111. Mit Hilfe dieses Radiopharmakons kann Prostatakrebs erfolgreich präklinisch erkannt werden. Das Radionuklid reichert sich aber nicht nur im Tumor, sondern auch in den Nieren an.
Das Nierenproblem
Stark radioaktive Ablagerungen in den Nieren beeinträchtigen nicht nur die Bildgebung, sondern können auch die Nieren schädigen. Das Problem entsteht, weil viele Proteine und Peptide von den Nieren gefiltert werden, bevor sie über den Urin ausgeschieden werden. Dieser komplexe Prozess kann dazu führen, dass peptidgebundene Radionuklide lange in der Niere verbleiben, bevor sie schließlich vollständig abgebaut oder anderweitig verarbeitet werden.
Um das Problem zu lösen, modifizierten die Forscher das FnBP5-Peptid mit einem speziellen Protein, das in den Nieren abgebaut werden kann. Dieses Protein fungiert als Brücke zwischen dem Ausgangspeptid und dem Radionuklid. FnBP5 kann sich so an Fibronectin anheften und über das Radionuklid den Tumor sichtbar machen. Aber sobald das modifizierte Medikament in die Nieren gelangt, wird das zusätzlich hinzugefügte Protein maskiert und das Radionuklid gelangt direkt in das Harnsystem, wo es ausgeschieden werden kann.
Mit diesem molekularen Trick gelang es den Forschern, die Wirksamkeit des ursprünglichen Medikaments aufrechtzuerhalten und gleichzeitig radioaktive Ablagerungen in den Nieren effektiv zu reduzieren. Béhé: „Wir hoffen, dass unsere Ergebnisse auch für andere Radiopharmaka mit ähnlichen Nebenwirkungen genutzt werden können.“
Text: Paul Scherrer Institut/Benjamin A. Senn
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OriginalfassungDoppelt spaltbare MVK-Liganden reduzieren effektiv die renale Retention von 111In-Fibrodonectin-bindenden PeptidenGiulia Valpreda, Belinda Trachsel, Viola Vogel, Roger Schibli, Linjing Mu, Martin BéhéBioorganische und medizinische Chemie28. September 2022DOI: 10.1016/j.bmc.2022.117040BMCHEM-D-22-00940R1
Basierend auf der ursprünglichen Studie
Neuartige Peptidsonden zur Beurteilung des Stresszustands von Fibronektinfasern bei KrebsSimon Arnoldini, Alessandra Moscaroli, Mamta Chabria, Manuel Hilbert, Samuel Hertig, Roger Schibli, Martin Béhé, Viola VogelNaturkommunikation, 27. November 2017 DOI: 10.1038/s41467-017-01846-0
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